Spaziergang zwischen den Zeitzonen

Zeit ist relativ. Das hat schon Einste­­­­­­­­­­­in gesagt. Er hat die Relativität von Zeit zum Raum natürlich wissenschaftlich belegt. Das kann ich nicht. Stattdessen stelle ich fest, dass sich mein Leben in einer verdammt schnellen Zeitzone abspielt. Da werden morgens im Bett die E-Mails  gelesen, in der U-Bahn drei verschiedene Apps bedient, rund um die Uhr über Facebook, Whatsapp, Instagram mit Freunden kommuniziert und – WAS Kim Kardashian wurde in ihrem Hotelzimmer ausgeraubt? Wie bitte, die Briten sagen JA zum Brexit? Informationen prasseln. Offline-sein ist nicht mehr. Ich finde das in Ordnung. Ich bin ein Digital Native. Als schnell und anstrengend empfinde ich es trotzdem. Das Arbeiten ohne Stempelkarte lässt sich nicht mehr vermeiden. Die Erwartung an einen Berufseinsteiger im Leben 2.0 ist, immer erreichbar und abrufbar zu sein. In der Zeitzone des globalisierten Kapitalismus regiert die Beschleunigung. Schneller. Höher. Weiter.

Ich komme nach Cambridge. Eine Zeitzone von Berlin weg. Natürlich im selben weltweit vernetzten Raum-Zeit-Kontinuum. Aber der Alltag fühlt sich anders an. Verlangsamt. Zum Beispiel laufen wir – die UdK-Redaktion 52 Grad – jeden Morgen eine halbe Stunde zu unseren Büroräumen. Und da ich ohne WLAN kein Internet habe, starre ich im Gehen nicht auf mein smartes Phone. Ich gehe einfach. Was mich außerdem unglaublich entschleunigt, sind die Inhalte, denen ich mich widme. Das Forschungszentrum für Deutschland-Studien, über das wir berichten, dreht sich überwiegend um Aspekte der deutschen Geschichte (Kulturgeschichte, Politik). Und da haben wir’s: Geschichte läuft nicht weg. Anders als im sonstigen medialen Alltag geht es nicht um etwas Aktuelles, Neues, Besseres oder Cooleres.

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Im Rad der Zeit gefangen: Dieses Insekt krabbelt in der „Corpus Clock“ im Herzen Cambridges an der Bene’t Street.

Nach einer dieser morgendlichen halben Stunden Fußmarsch treffe ich die Historiker Professor Alexandra Walsham und Dr. Matthew S. Champion. Ihr Forschungsschwerpunkt ist Zeit in sozialen Kontexten. Champion teilt meine Wahrnehmungen in Bezug auf unser heutiges Tempo: „Zumindest in der westlichen Welt sind Beschleunigung im Berufsleben, schneller werdende Technologien und das Reisen mit hoher Geschwindigkeit zur Lebensform geworden.“ Stillstand ist Tabu, und zurück in die Vergangenheit zu wollen, gehört auch nicht zum Selbstbild des 21. Jahrhunderts.

Zu Beginn der Frühen Neuzeit (13. bis 16. Jahrhundert) war es das Gegenteil: Veränderung und Innovation wurde nicht automatisch als etwas Positives angesehen. „Wenn du authentisch sein wolltest, durftest du nicht behaupten, dass du ein Innovator bist, sondern, dass du zurück in die Vergangenheit möchtest“, erklärt Walsham. Sie sieht Martin Luthers Protest 1517 gegen die katholische Kirche als ein gutes Beispiel für diese Zeit. Die Reformer wollten die apostolische Reinheit des Christentums erneuern, den Katholizismus reformieren. „Sie wollten keine neue Kirche kreieren. Sie sahen sich der Aufgabe der Wiederherstellung und Erneuerung verpflichtet, nicht mit einer Veränderung zum Neuen und Besseren.“

Früher war alles besser. Professor Alexandra Walsham über den Nostalgiker Martin Luther.
In der frühen Neuzeit bedeutete Reform ein Zurück-zu-den-Wurzeln: Alexandra Walsham (rechts) und Matthew S. Champion über den Nostalgiker Martin Luther.

Die Zeiterfahrung schlägt sich in der Frühen Neuzeit auch in anderen protestantischen Erzählungen nieder. Der Reformator Johannes Calvin vertrat den Glauben an die ultimative Vorbestimmung menschlichen Heils: Gott entscheidet noch vor der Geburt, wer erlöst und wer verdammt sein wird. Nichts, was man im Leben tut, kann diese Entscheidung abwenden. „Das erzeugt bei Menschen Unsicherheit, denn niemand möchte sich ohnmächtig oder hilflos fühlen, weil man seine Zukunft nicht mitgestalten kann“, sagt Walsham. Champion nickt zustimmend: „Wenn Gott und Zeit in Zusammenhang stehen, hat das radikale Auswirkungen auf das menschliche Verhalten“. Die Antwort auf das Vorbestimmungsdenken lag in dem Versuch, ein möglichst frommes und ergebenes Leben zu führen. Gleichzeitig aber gab es ein stark apokalyptisch geprägtes Denken, das ein komplett gegensätzliches Verhalten hervorrief. „Wenn du denkst, dass dir nur noch wenig Zeit bleibt, agierst du mit mehr Vehemenz oder tust stärker Buße“, erklärt Champion.

Unser Gespräch nähert sich der Gegenwart. Was nimmt man mit aus diesen Zeitreisen zur Reformation mit, in unsere von postchristlichem Glauben und knallharter Marktkonkurrenz geprägte Welt des Multimedia-Hoppings? Champion: „Teil unseres Jobs als Historiker ist es den Leuten vorsichtig zu sagen: Überlegt euch gut, welche Auswirkungen eure Handlungen auf diese Zeit haben. Wenn die konstante Arbeit die Familie zu zerstören droht, warum lässt du deine E-Mails nach einer bestimmten Uhrzeit nicht einfach unbeachtet?“ Auf sozialer und politischer Ebene spiele die Vergangenheit auch oft eine tragende Rolle – ohne, dass wir es direkt merken, sagt Champion. „Wenn wir uns den Brexit anschauen, haben wir ein klassisches Beispiel dafür, wie sich Leute die Vergangenheit zunutze machen, um eine Illusion zu kreieren. Die eigentliche Vergangenheit wird radikal verdrängt, wie zum Beispiel die Konflikte in Irland. Aktuell hat die Vergangenheit also eine Doppelfunktion: Zum einen wird sie vergessen und zum anderen wird sie benutzt, um über die Zukunft zu fantasieren.“ Da sind wir plötzlich mittendrin im Heute. #brexit. Der Ausgang des Referendums als Ausdruck eines antimodernen Zeitempfindens: der Brexit als Romantisierung des Alten und als Verklärung des Kommenden. Es wird klar: Wir brauchen den kritischen Blick auf die Geschichte, um die Jetztzeit in ihren Reform- und Restaurierungsbestrebungen klar zu erkennen.

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