Die Westfälische Toolbox

Eine Gruppe von Wissenschaftlern, Diplomaten und Politikern will im Geiste des Westfälischen Friedens eine Friedenskonferenz für den Nahen Osten auf die Beine stellen. Der EU soll eine Vermittler-Rolle zukommen. Klingt gut. Aber wie realistisch ist ein solches Vorhaben in einer Zeit, in der die Weltmächte in der Region gegeneinander arbeiten?

Als Frank-Walter Steinmeier im September 2016 in seiner Rede zum deutschen Historikertag in Hamburg den heutigen Konflikt im Nahen Osten mit dem Dreißigjährigen Krieg verglich und die Forderung aufstellte, die Europäische Union müsse in einer Art Westfälischen Friedenskonferenz 2.0 zwischen den verfeindeten Parteien in der Region vermitteln, staunte man nicht schlecht. Ist doch nichts in Politik und Geschichtswissenschaft so gefürchtet wie die Analogie.

Und diese Analogie ist kühn. Zur Erinnerung: Der Westfälische Frieden war ein über fünf Jahre ausgehandeltes Abkommen zur Beendigung des bis dato verheerendsten Krieges in Mitteleuropa 1618 bis 1648. Sein zentraler Clou lag in der Abtretung von Souveränitätsansprüchen der Kriegsparteien: Der Kaiser verzichtete auf absolute Souveränität über seine Fürsten, diese waren nicht mehr absolute Souveräne über ihre Untertanen und durften Ihnen nicht länger Ihren Glauben vorschreiben. Mit den Verträgen von Münster und Osnabrück wurden die Weichen für interreligiöse Zusammenarbeit, Religionsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit in Mitteleuropa gestellt. Und diese historisch einzigartige Konstellation soll jetzt im Nahen Osten reproduziert werden?

Steinmeiers Vergleich ist mitnichten eine rhetorische Jonglage mit medienwirksamen Analogien. Das deutsche Außenministerium fördert über den DAAD ein akademisch-politisches Projekt, dass tatsächlich nichts Geringeres anstrebt als eine mehrjährige neowestfälische Friedenskonferenz, die den gordischen Knoten aus religiösen Schismen, territorialen und terroristischen Kämpfen im Nahen Osten lockern soll. An „A Westphalia for the Middle East“ beteiligt sind Islamwissenschaftler, Historiker, Politikwissenschaftler und Politiker. Die Körber-Stiftung, die sich schon in früheren Projekten damit beschäftigt hat, inwiefern Erkenntnisse aus der Geschichte aktuelle Politik inspirieren können, ist als weiterer Unterstützer mit im Boot.

Die Geschichte als Modellvorlage

Die Wiege des Westfälisch-Orientalischen Friedens in spe ist Cambridge. Hier arbeiten seit Januar 2016  Brendan Simms, Professor für Geschichte der internationalen Beziehungen, Dr. Patrick Milton, Historiker mit Schwerpunkt Europa in der frühen Neuzeit, und  Michael Axworthy, Professor für Middle Eastern Studies, zusammen mit Diplomaten, Historikern und anderen Akteuren aus Europa und der arabischen Region an Vorschlägen für einen Friedensvertragsentwurf, der in einigen Jahren Vorlage für ein realpolitisches Projekt werden soll.

Im Rückblick auf die ersten Workshops, die in im Frühjahr in London und Cambridge stattfanden, bezeichnet Patrick Milton den Westfälischen Frieden als „Toolbox“ für eine diplomatische Lösung der Konflikte im Nahen Osten. Es gehe nicht darum, europäisches Gedankengut zu indoktrinieren, sondern aus den friedensstiftenden Mechanismen des Vertragwerks und den Methoden der westfälischen Diplomaten zu lernen und Vorschläge zu konzipieren, die durch internationale und interdisziplinäre Zusammenarbeit an die  geopolitische und soziokulturelle Situation im Nahen Osten angepasst werden können. Wie konkret das aussehen soll, werde in der kommenden zweiten, praxisorientieren Forschungsphase des Projektes geprüft.

Im Peterhouse College Cambridge treffe ich Professor Brendan Simms zum Gespräch über die aktuelle Lage im Nahen Osten, über die Stärke und Glaubwürdigkeit der Europäischen Union und über Deutschlands Rolle im anstehenden Friedensprozess.

Professor Brendan Simms in seinem Büro im Peterhouse College in Cambridge.
Professor Brendan Simms in seinem Büro im Peterhouse College in Cambridge.

Wie kann die Europäische Union als dritte Partei im Nahen Osten vermitteln? Werden wir dort ernst genommen?

Die meisten Akteure in der Region, mit denen wir gesprochen haben, begrüßen die Idee, die Europäische Union als Vermittler ins Rennen zu schicken. Es gibt zwei Dinge, die die EU für eine solche Rolle prädestinieren: Erstens hat die Europäische Union ein großes Interesse daran, was im Nahen Osten passiert. Fragen nach Intervention betreffen Europa ganz direkt. Früher richteten sie sich vor allem auf die Sicherung von Energievorkommen, heute stehen sie im Zeichen der Flüchtlingskrise. Zweitens haben die Europäer politische, historische und  kulturelle Hebel, die zu den heutigen Konfliktlösungen beitragen können. Zum Beispiel das Konzept von bedingter Souveränität in und zwischen verschiedenen Staaten, so wie sie im Westfälischen Frieden durchgesetzt wurde. Diese Erfahrungen können die Europäer im Nahen Osten einbringen.

Haben der Brexit und der Ukraine-Konflikt  unsere Position als starker, globaler Akteur nicht stark geschwächt?

Ja. Der Brexit hat ein großes Fragezeichen hinterlassen. Die Europäische Union hat genauso viele Schwächen wie andere internationale Verbünde. Aber wir arbeiten daran. Wir haben jetzt einen Europäischen Auswärtigen Dienst (European External Action Service), der sich auf den Nahen Osten konzentrieren will. Die EU hat das Potenzial, ein starker globaler Akteur zu sein. Dafür müssen allerdings die einzelnen europäischen Staaten an ihrem Zusammenhalt arbeiten.

Als einen weiteren wichtigen Akteur erwähnen Sie die Türkei. Sie hat zuletzt stark an Glaubwürdigkeit eingebüßt.

Ob die Türkei ein externer Garant in einer Friedenskonferenz sein kann oder selbst Gegenstand der Verhandlungen,  das muss stark diskutiert werden. Wir werden keine Lösung diktieren. Wir bieten nur ein Instrumentarium an, aus dem ausgewählt werden kann, aber nicht muss.

Für Viele scheint Frieden im Mittleren Osten unmöglich. Aber das dachten die Deutschen im Dreißigährigen Krieg auch.
Für Viele scheint Frieden im Nahen Osten unmöglich. Aber das dachten die Deutschen im Dreißigährigen Krieg auch.

Wenn es tatsächlich zu einer solchen Konferenz käme, welche Staaten würden teilnehmen? Und wo würde sie stattfinden?

Zuallererst sollte man die Konferenz nicht als einmaliges Ereignis ansehen. Wir müssen von einem langen Prozess ausgehen. Der Schlüssel liegt darin, dass die Akteure, die an einer solchen Konferenz teilnehmen, im Geist des Westfälischen Friedens an die Probleme herangehen: Das bedeutet anzuerkennen, dass bestimmte außenstehende Mächte (anno 1648 waren das Schweden und Frankreich) Garanten für den Frieden sind, dass es Akteure geben wird, die souverän handeln, und andere, die eingeschränkte Souveränität besitzen werden. Jeder muss Zugeständnisse machen. Uns ist bewusst, dass das alles sehr kontrovers ist und sehr sorgfältig geplant und reflektiert werden muss.

Was den Ort der Konferenz angeht, wäre Berlin mein Favorit. Außenminister Steinmeier ist jemand der den Westfälischen Frieden intellektuell wirklich durchdringt, er hat eine Vision, wie man das Konzept des Westfälischen Friedens auf den Nahen Osten anwenden kann. Er hat sich für das Projekt eingesetzt und könnte also eine Führungsrolle übernehmen. Was wäre also ein besserer Ort für eine Konferenz als Berlin?

Wäre ein Ort in der Region des Nahen Ostens denkbar?

Ich glaube, wenn das der Fall wäre, begäben wir uns noch viel tiefer in Streitfragen. Wenn man eine Konferenz in Teheran ausrichtet, macht man ein bestimmtes Zugeständnis, wenn man sie in Riad abhält, wäre es eine andere Form von Zugeständnis. Ganz zu schweigen von Jerusalem oder Damaskus. Wo auch immer es sein wird, es muss ein Ort sein, an den alle Beteiligten sicher reisen können. Und es muss ein Ort sein, der nicht selbst eine Kontroverse auslöst.

Der Dreißigjährige Krieg war ein europäischer Konflikt. Heute operieren im Nahen Osten nicht nur regionale Akteure, sondern auch die EU, Russland und die Vereinigten Staaten. Warum sollten es die Länder im Nahen Osten begrüßen, dass so viele fremde Mächte an ihrer Zukunft mitplanen?

Betrachtet man den Westfälischen Frieden, so waren die externen Akteure wie Schweden und Frankreich  keineswegs unparteiische Vermittler. Sie waren aktiv an den Kämpfen beteiligt als Gegner vom Kaiser und Spanien. Gerade deshalb wurden sie eingebunden und deshalb waren sie so effektiv. Ich sehe es also nicht als unüberwindbare Barriere an, dass externe Akteure wie die USA, Russland und die EU bereits Teil des Konflikts sind. Die Komplexität ist wirklich vergleichbar. Die Akteure aus dem Nahen Osten, mit denen wir zusammenarbeiten, erkennen diese Parallelen an und betrachten die Rolle der EU deshalb als wertvoll und nicht als illegitim.

Der Galgenbaum – Darstellung von Kriegsgräueln nach Jacques Callot (1632)
Der Galgenbaum – Darstellung von Kriegsgräuel nach Jacques Callot (1632)

In ihrem Artikel für den New Statesman sagen sie, dass der Israel-Palästina-Konflikt keine entscheidende Rolle für die Stabilisierung des Nahen Ostens spielt.

Der Punkt, den wir mit dieser Aussage machen wollten, ist folgender: Vor zehn Jahren war es allgemein üblich, den Konflikt von Israel und Palästina als zentral  für die Probleme der Region anzusehen. Heute spricht die Arabische Liga fast gar nicht mehr über Israel. Es passiert zu viel anderes. Die meisten Opfer der bewaffneten Konflikte in den letzten Jahrzehnten hatten sehr wenig mit dem Israel-Palästina-Konflikt zu tun, sondern mit dem  Iran-Irak-Krieg, den beiden Golfkriegen, und nun dem Krieg in Syrien.  Ich habe es immer für einen sehr faulen Ansatz gehalten zu sagen: Wenn wir  Israel-Palästina lösen, lösen wir den gesamten Konflikt im Nahen Osten. Ich glaube eher, dass dieser Konflikt ein Blitzableiter für andere Konflikte war, ein Ausweg, an dem man einen außenstehenden Akteur als Sündenbock hinstellen konnte.

Nahezu jede islamistische Terroristengruppe wie der IS oder die Al-Nusra Front hat die Vernichtung von  Israel auf der Agenda.

Natürlich. Aber das ist so gesehen ihr Endziel, an dem sie gerade nicht aktiv arbeiten. Wenn man sich die Verbrechen dieser Organisationen ansieht, gab es nur sehr wenige Angriffe auf Israel, die meisten davon wurden von lokalen palästinensischen Gruppen ausgeführt. Die internationalen Terroreinheiten machen das nicht. Sie sind vielmehr auf jüdische Gemeinschaften weltweit konzentriert als auf den Staat Israel. Der aktuelle Hauptfeind von Al-Nusra ist Assad. Für den IS sind es die Türkei, die Kurden und die irakischen Regierungstruppen.

Israel und Palästina wären also Teil der Konferenz?

Absolut. Sie sind ein wichtiger Teil des Konflikts. Aber sie sind nicht der entscheidende Faktor. Man sollte auch erwägen, nicht alle Akteure auf einmal in einen Raum zu stecken, sondern erst später zu diesem Konflikt  zu kommen. Gleichzeitig ist es schwierig diese Reihenfolge festzulegen. Ich bin nicht der ausführende Diplomat, der diese Entscheidungen treffen wird, ich kann nur Informationen liefern,  die helfen können diese Diskussionen anzutreiben. Auch im Westfälischen Frieden waren manche Gruppen von den Verhandlungen ausgeschlossen oder kamen erst später hinzu. Dennoch wurden durch diplomatisches Geschick sehr alte Konflikte letztendlich überwunden. Ich glaube, dass das etwas ist, was die Menschen an diesem Projekt fasziniert. Der historische Beleg, dass so etwas möglich ist.

Könnte Russland Teilnehmer sein? Und was ist mit Vertretern aus den nordafrikanischen Staaten?

Ich glaube nicht, dass es eine einvernehmlich diplomatische Lösung ohne Russland geben kann. Die Russen sind Teil des Geschehens und müssen miteinbezogen sein. Ebenso Akteure aus Ägypten und Libyen.

Im Westfälischen Frieden ging es vor allem um einen Frieden zwischen Katholiken und Protestanten.  Im Nahen Osten bekriegen sich nicht nur muslimische Religionsgemeinschaften, sondern es werden auch Juden, Christen und andere Glaubensrichtungen verfolgt. Werden diese religiösen Gruppierungen in die Konferenz integriert?

Wir müssen alle religiösen Minderheiten einbinden. Wir haben noch nicht viel darüber veröffentlicht, weil wir uns in der ersten Hälfte des Projektes auf den Vergleich von christlichen Hegemoniekämpfen in Europa und muslimischen Hegemoniekämpfen im Nahen Osten konzentriert haben. In der zweiten Phase werden wir uns wesentlich mehr damit beschäftigen.

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Die Kaaba in Mekka, das zentrale Heiligtum des Islams.

Welche Akteure aus dem Nahen Osten wurden bisher hinzugezogen ?

Wir hatten bereits in den ersten Seminaren zu Beginn des Jahres Vertreter aus Ägypten, Jordanien und Israel zu Gast. Jetzt, wo wir von der Körber Stiftung gefördert werden, werden wir ein Seminar in Berlin abhalten, an dem auch Herr Steinmeier teilnimmt. Im nächsten Januar wollen wir ein Treffen in Jordanien organisieren, wo wir das Thema regional vorstellen wollen. Einer unserer Sponsoren ist die Quraish Foundation, die über Demokratie im Nahen Osten forscht. Einer ihrer Verteter, Professor Malik Dahlan von der Queen Mary University of London, der selbst ein Saudi ist, war bei fast allen Seminaren dabei. Wir werden nach und nach Akteure aus jedem beteiligten Staat hinzuziehen.

Eines der Westfälischen Elemente, die sie kopieren wollen, ist die Etablierung eines juristischen Systems, das von allen Parteien anerkannt wird und über die Grenzen des eigenen Landes hinaus Rechte wie Religionsfreiheit sichern kann.

Wir brauchen tatsächlich eine juristische Institution, an die sich alle Untertanen (wir haben es teilweise immer noch mit Monarchien zu tun) und Bürger wenden können. Wir haben zwei Möglichkeiten. Die UN-Strukturen könnten hierfür herangezogen werden, aber natürlich ist es langfristig wichtiger, regionale Strukturen für einen internationalen Gerichtshof im Nahen Osten zu etablieren.

Wie lange würde eine solche Konferenz dauern?

Sehr viel länger als die Verhandlungen für den Westfälischen Frieden. Hoffentlich nicht so lange wie der Dreißigjährige Krieg.

 

Bilder (von oben): geheugenvannederland.nl/Wikipedia Commons, „Palestine“: PhotoRNW.org/Flickr, „Der Galgen“ von Jacques Callot : Art Gallery of New South Wales/Wikipedia Commons, „Mosquée Masjid el Haram à la Mecque“: Citizen52/Flickr

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